Was ist erlebte Zeit, wenn nicht ein Maß für die Abfolge von Ereignissen?
Doch wessen Ereignisse? Wo sind Ereignisse beheimatet? Stehen Ereignisse und Zeitebenen nicht im ständigen Austausch miteinander? Entspricht eine je spezifische Abfolge von Ereignissen nicht einem Spiel mit der Zeit, da potentiell vielfältige Möglichkeiten an Ereignissen offen stehen? Was gibt der Zeit ihren definitiven Charakter?
Zeit gilt uns als Brücke, den immensen Raum zu durchqueren. In ihrer ursprünglichsten Ausprägung offenbart sie sich in Abläufen in der Natur, die in ihrer Zyklizität einen rhythmischen Regelcharakter erhalten, der wiederum das Zeitgebilde ausfüllt bzw. initiiert. Wir können einen Laubbaum übers Jahr begleiten, verfolgen, wie er seine Gestalt verändert und Vorhersagen treffen, dass im nächsten Jahr prinzipiell alles genauso ablaufen wird.
In unserer hoch zivilisierten Gesellschaft erhält Zeit jenseits ihrer natürlichen Zyklen einen Anschein von Linearität. Sie bewegt sich dann ähnlich einem Flusslauf von der Quelle zur Mündung, von einem Anfangspunkt hin zu einem Endpunkt.
Entspringt dieser lineare Entwicklungsgedanke der Kultur der Moderne, die wir mit Prozessen von Individualisierung, Wachstum, Fortschritt, Beschleunigung charakterisieren? Geht es dabei um das "immer Neue" als eine vom Diktum der Zeit hervorgekehrte Devise?
Und sind prämoderne Kulturen, auch heute noch von Völkern gelebt, durch die Bezugspunkte Gemeinschaft, Tradition, Natur und Zyklen gekennzeichnet und damit eher in Statik und Beharrung dem Raum zugewandt? Gilt dagegen die postmoderne Kultur als eine extreme Beschleunigung und Übersteigerung der Moderne?
Sicherlich fällt es uns nicht schwer, diese Fragen, so plakativ sie auch erscheinen, mit einem "ja" zu beantworten. Bliebe jedoch die Frage, ob wir Veränderungsbedarf sehen?
Ich plädiere für die Sichtweise des Philosophen Wilhelm Schmid, der in seinen Werken den Raum für eine andere, modifizierte Moderne öffnet, welche eine Raumzeitkultur beschreibt. Diese steht im Zusammenhang mit einer "Mäßigung der ins Maßlose gesteigerten Kultur der Zeit", der "Neubestimmung einer Kultur des Raumes" sowie dem "Hinüberretten einiger Eigenschaften aus bestehenden Raumkulturen in eine neue Zeit". Strukturen der Moderne können Korrekturen unterzogen werden vor dem Hintergrund eines reflektierten Gebrauchs errungener moderner Freiheiten. Dazu bedarf es nicht zuletzt einer Einübung in den Umgang mit Freiheiten.
Zurück zu unserem Gedanken der Linearität.
Besinnt man sich allgemein bei Vorhaben nicht nur auf das Ziel, sondern auch auf den Weg, heißt das, den Raum wahrzunehmen und damit der Zeit ihren absoluten Charakter zu nehmen. Unser eigenes Tun und Ereignisse relativieren sich, sobald wir den Kopf über unseren Tellerrand hinausgestreckt haben. So sehen wir, uns dann und wann aus einer Metaebene betrachtend, dass sich unser alltägliches Sein in Form getimter, kalendarischer Lebensvollzüge und somit in seiner vordergründig linearen Bewegung, auf unsere eigens fokussierten Ausschnitte bezieht. Grundsätzlich könnten alle Ereignisse auch anders stattfinden, denn Alternativen, die der Raum bietet, stehen offen. Und durch die Komplexität des Raumes, der in unseren postmodernen Zeiten noch durch virtuelle Räume vervielfältigt wird, ist das Netz dicht und schier undurchdringlich. Unsere Ereignisse und Erfahrungen verlieren sich in immer neuen Ereignissen, Bezügen, in Schleifen, Kreisen und Wiederholungen. Ein Anfang und ein Ende sind nicht mehr auszumachen.
So ist auch die Spanne unseres gelebten Lebens, durch Geburt und Tod mit eindeutigem Anfangs- und Endpunkt versehen, letztlich eingebettet in ein zyklisches Geschehen - wir sehen uns inmitten eines großen Kreislaufs der Natur: im Werden und Vergehen.
Das Danach wird zugleich zu einem Davor.
Jeder Schritt, den wir tun, folgt einem vergangenen und führt hin zu einem neuen, der wiederum ein vergangener sein wird. Wir sind vernetzt mit dem Raum, in welchem wir Spuren folgten und in welchem wir Spuren hinterlassen.
Es ergäbe sich daraus nicht zuletzt die Überlegung, bei allem Tun, da es Spuren hinterlässt, Vorsicht walten zu lassen. Verantwortung zu übernehmen.
Das Thema dieser Ausgabe der Zeitschrift Schöngeist schaffte einen offenen Rahmen für die individuelle Versinnbildlichung zeitlich-räumlichen Geschehens. Splitter und Fragmente fügen sich wieder zu einem prismatischen Gebilde.
Die Auseinandersetzung mit Kunst nimmt einen zentralen Platz ein. Seien es die Bilder von Pierre Fischer, die in ihren vielfältigen Räumen und Ebenen das Thema versinnbildlichen; die intensive Auseinandersetzung des landart-Künstlers Andy Goldsworthy mit dem Phänomen der Zeit in der Natur; die fotografischen Beiträge des schon verstorbenen Schriftstellers und Fotografen Gustav Schenk, der auf der Suche nach dem Schöpfungsmythos ein faszinierendes Spiel von Form und Bewegung im fließenden Wassertropfen entdeckt.
Die Musik gleich mehrfach vertreten, widerspiegelt mittels der Beiträge das Verlangen, Zeit und Raum zu vereinen. Sei es bezüglich einer partiellen Strukturanalyse der Musik, wie sie Gaby Bultmann in ihrem Essay über die Zeitstruktur in der Musik des Mittelalters tätigt oder hinsichtlich der Einblicke in die ganzheitliche Wirkung der Musik im gegenseitigen Kommunikations- und Befruchtungsprozess, wie sie Beiträge von Kurt Dietmar Richter (die neue brücke), Stefan Sikora oder J. G. v. Wrochem gewähren.
Ein Beitrag über Marineuhren nimmt noch einmal "direkt" Kontakt mit der Zeit auf und es verbleiben nicht zuletzt lyrische, prosaische, essayistische Texte und Fotografien verschiedener Autoren, die dem Thema ihre persönliche Stimmung und Reflektion verleihen.
Tanja Porstmann |