Liebe Leserinnen und Leser,
haben Sie sich schon einmal beobachtet gefühlt? Blickte Ihnen jemand unverwunden ins Gesicht? Fühlten Sie sich dann ausgeliefert?
Halten Sie Zwiesprache mit Ihrem Spiegel? Halten sie in bestimmten Situationen schützend Ihre Hände vors Gesicht? Verbinden Sie mit bestimmten Gesichtern ein Gefühl der Vertrautheit?
Unser Gesicht ist nackt. Es wird gesehen und somit werden wir gesehen. Daraus ergeben sich Spielräume.
Tagtäglich begegnen wir Gesichtern - auf Wegen und in Räumen, die unser Leben musterhaft begleiten. Im Alltag, im Urlaub, verhofft und unverhofft, kurz und vorübergehend oder lang und verweilend - wir sehen sie, die anderen und blicken ihnen ins Gesicht.
Bis auf den Tastsinn sind sämtliche Sinne mit dem Gesicht verbunden, wir hören, sehen, riechen, (bisweilen) schmecken die anderen. Der Gesamteindruck macht die Empfindung rund, was uns dazu verhilft, innere und Identität stiftende Bilder zu hinterlassen.
Die Beiträge in diesem Heft weben ein Netz rund um die starke Aufmerksamkeit, die das Gesicht erregt. Da gibt es zum einen das Thema Maske und Spiegel - wie sehe ich mich selbst, wie werde ich gesehen, wie will ich gesehen werden?
Von hier aus ist es nicht weit zur mehr oder weniger ironischen Auseinandersetzung mit dem "ganz normalen" Schönheitswahn einschließlich des Griffs zum Skalpell. Letzterer ist nach Brandunfällen oft unvermeidlich und mit ebenso viel Leid wie aufzubringender Stärke verbunden, wie es uns der Beitrag von Johannes Groschupf zeigt.
Ob das markante und gelebte Gesicht, von Ilja Luciani in Fotos portugiesischer Landbewohner zu Papier gebracht; das tote Gesicht, philosophisch von Bobin oder in einem kurzen Beitrag zur Totenmaske von Beethoven zur Sprache gebracht oder die von Emotionen gezeichneten fotografischen Porträts von In Sook Kim ebenso wie die die Zeit der Begegnung hervorhebenden Porträts von Kyungwoo Chun - die eindringliche Präsenz des Äußeren verbindet sich mit der Frage nach einer wesenhaften und ganzheitlichen, das Leben bestimmenden Qualität des Gesichts.
So erweist sich auch das Gesicht im Spiegel der Gesellschaft als lohnenswerter Betrachtungsgegenstand, hier geht es um Massenphänomene ebenso wie um Vereinzelungszustände. Die Kriegsthematik führt über das Gesicht zur Ambivalenz zwischen dem Untertauchen in der Allgemeinheit und der Hervorhebung der eigenen, nackten Verletzlichkeit. Mainat Kourbanova, die journalistisch im besetzten Grosny tätig war oder Fang Lijun, ein zur zeitgenössischen chinesischen Avantgarde zählender Künstler, beschäftigen sich mit diesem Thema.
Und: wir eröffnen eine neue Rubrik: in Hinterstübchen wird uns Juliette Guttmann zukünftig mit einer Kolumne über das ganz alltägliche Zuckerschlecken in häuslich-heimatlichen Gefilden erfreuen.
Tanja Porstmann |